Werden all unsere Kinder dumm, dick und aggressiv?

Im Interview des Tagesanzeigers vom 23. Juli 2012 über die Auswirkungen des Gebrauchs von Computern, Smartphones und Spielkonsolen warnt der Hirnforscher Manfred Spitzer davor, dass unsere Kinder Gefahr laufen, dumm, dick und aggressiv zu werden. Es mischen sich verschiedenste Aussagen: Einige bezieht er konkret auf die Lernfähigkeit von Kleinkindern, einige auf die längerfristige Entwicklung eines Menschen vom Kind bis zum Erwachsenen und einige allgemein auf digitale Medien und deren angeblichen Gefahren für das menschliche Gedächtnis und unsere kognitive Leistungsfähigkeit.

Spitzer behauptet, dass das Gehirn eines Kindes auf die reale Realität angewiesen ist und von Bildschirmen und Lautsprechern wesentlich schlechter lernt als von Dingen und Erlebnissen in der wirklichen Welt. Virtuelle und reale Welt vermischen sich heute aber immer mehr. Wenn das Kind ein Hörspiel aus dem Lautsprecher hört, welches auf dem Laptop des Papa abgespielt wird, mag dies vielleicht nicht in gleichem Masse zur sozialen Weiterentwicklung und Bindung beitragen, wie wenn es dieselbe Geschichte direkt von einem Elternteil vorgelesen bekommt, aber schlecht wird es davon sicherlich nicht beeinflusst. Auch später im Prozess des Erwachsenwerdens ist die Unterscheidung der „wirklichen“ zur digitalen Welt unklar. Ein Jugendlicher, der über Facebook gehänselt wird, empfindet dies als genauso verletzend, wie wenn es die Klassenkameraden in der Schule direkt tun. Deshalb scheint mir diese Unterscheidung von „wirklicher“ Welt und „Bildschirmwelt“ etwas ungeeignet, um pauschal digitale Medien für eine ungünstige Entwicklung eines Kindes heranzuziehen.  Eine genauere Definition der Lebenswelten beziehungsweise deren Trennung voneinander müsste herausgearbeitet werden. Natürlich ist es unbedingt nötig, den Computer auszuschalten und in die Natur zu gehen, das Kind soll mit Gleichaltrigen ohne technische Kommunikationsmittel dazwischen spielen, um Sozialkompetenz zu erlernen, dies bestreite ich überhaupt nicht. Ich bestreite nur diese allzu negative Sicht, dass der Umgang mit Computer und technischen Geräten pauschalisierend zu einer „Verdummung“ führen soll. Der Begriff der digitalen Demenz bezeichnet in erster Linie die beobachtbare Vergesslichkeit, wenn wichtige Termine und Nummern in ein Gerät gespeichert werden. Führt dieses Outsourcing der Gehirntätigkeit wirklich zu einem schleichenden Gedächtnisverlust, oder könnte es auch sein, dass einfach andere Fähigkeiten des Gehirns in den Vordergrund treten? Welche Fähigkeiten wollen wir der nachfolgenden Generation mitgeben? Was ist denn schlussendlich heute das Ziel von Bildung? Ist es das sture Auswendiglernen von Fakten, welche man heute schnell im Internet findet oder soll das Ziel von Bildung nicht viel eher das kritische Hinterfragen von gefundener Information sein? Das neugierige Sich-Informieren, das Interesse an der Welt an und für sich? Bei statischen Fakten wie hoch zum Beispiel der Eiffelturm ist, gibt es wohl nicht viel zu hinterfragen. Aber bei Informationen, welche unser Zusammenleben regeln wie der Fragestellung, ob Computerspiele unsere Kinder dumm machen, ist eben das kritische Denken dringend nötig.

Spitzer macht in diesem Interview den Fehler, allgemein das System Internet, technische Geräte wie Computerbildschirme, Smartphones und das Medium Videospiel in einen Topf zu werfen. Es scheint in diesem Interview wenig Reflexion darüber zu gehen, dass all diese Objekte verschiedene Funktionen erfüllen und unter verschiedenen Blickwinkel auf verschiedenen Ebenen analysiert werden können. Dass sich Spitzer mit der Materie Videospiel nicht auskennt wird an dem Satz klar:

 


Wenn einer fast rund um die Uhr beim Onlinerollenspiel «World of Warcraft» herumballert, leidet er, wenn er plötzlich offline ist.

Quelle: http://www.tagesanzeiger.ch/digital/internet/Es-besteht-die-Gefahr-dass-Kinder-dumm-dick-und-aggressiv-werden/story/12425157


Word of Warcraft ist nun mal kein Shooter, und es spielt sich auch komplett anders. Mit einem solchen Satz belegen zu wollen, dass digitale Medien faul und süchtig machen, beweist nur Unwissenheit und Ignoranz Videospielen gegenüber. Suchtproblematik und die Gefahr von digitaler Demenz durch Überbenutzung von digitalen Hilfsmitteln werden hier vermischt. Dass Onlinerollenspiele einen Sog haben können, der schliesslich zu einer Sucht führt, weiss man mittlerweile. Zur Zeit wird von einigen Interessenverbänden eine mögliche höhere Altersrestriktion für solche Spiele gefordert, die auf eine längerfristige Bindung mit dem Spieler abzielen, um mögliche Schäden in der Entwicklung eines Jugendlichen vorzubeugen. Darüber kann und soll man diskutieren. Was aber auch nicht ausser Acht gelassen werden darf, sind die sozialen Systeme und die Kraft normativer Erwartungshaltungen des Umfelds, die einen Jugendlichen in eine solche Sucht drängen. Ob es zu einer glücklicheren Kindheit führt, wenn Onlinespiele verboten werden, glaub ich nicht. Wie Herr Spitzer korrekt sagt, macht die Dosis das Gift. Oftmals machen Verbote etwas ja sowieso erst interessant.

Spitzer malt eine schwarze Zukunft von Kindern, welche in Depressionen, Gewaltbereitschaft und sozialem Abstieg versinken. Tatsache ist aber, dass wir heute relativ friedlich leben. Das Thema der Gewaltbereitschaft in Bezug auf das Medium Videospiel ist eines der Kernthemen, mit denen sich GameRights auseinandersetzt. Deswegen gehe ich hier auf den Vorwurf der Gewaltbereitschaft nochmals eingehender ein: Die Kriminalität ist in unserem Kulturkreis, aus einer übergeordneten Perspektive, nachweislich seit Jahrzehnten gesunken, heute finden keine öffentliche Hinrichtungen mehr statt. Es wird lange nicht mit einer Selbstverständlichkeit zugeschlagen, wie dies in anderen Zeiten der Menschheitsgeschichte der Fall war, als es übrigens noch keine Smartphones und Computerbildschirme gab. Gewaltbereitschaft ist auch immer verbunden damit, wie Gewalt in einer Gesellschaft gewertet wird: Wird sie als etwas positives gesehen, als bewundernswerte Eigenschaft eines Menschen, sich und seine Ehre zu verteidigen oder wird sie stigmatisiert und wird ihr zugeschrieben, dass mit dem Menschen, der Gewalt ausübt, etwas nicht „stimmt“? In unserem Kulturkreis lässt sich klar eine Tendenz zur letzteren Sicht sehen, wobei die Gewalt in unserer Gesellschaft ausgelagert wird auf mehr oder weniger kontrollierte Systeme wie zum Beispiel Sport und eben auch virtuelle Welten. Niemand würde heute sagen, dass zum Beispiel mit einem Fussballer etwas nicht „stimmt“, wenns mal an einer Europameisterschaft etwas heftig zugeht. Warum wird dann so sehr auf Gewalt in interaktiven, virtuellen Welten gezeigt? Dass mit den Leuten etwas nicht „stimmen“ soll, die gewalthaltige Videospiele spielen? Diese Spiele sind übrigens schon länger nach PEGI nur für ältere Personen empfohlen. Ich kann diese Frage hier in diesem Kontext sicherlich nicht abschliessend beantworten, aber ich möchte sie in den Raum werfen.

Dass der Gebrauch von digitalen Medien zu sozialem Abstieg führen soll lässt die Überlegung aussen vor, ob die Jugend heute vielleicht andere Werte in den Vordergrund stellt wie die Freiheit, sich zu entfalten oder Entdeckerdrang anstelle von sozialem Status und finanzieller Sicherheit. Dies deswegen, weil sie nie mit der finanziellen Not oder gar dem Hunger zu kämpfen hatten wie Generationen vor ihnen. Sie leben in einer relativ sicheren Gesellschaft, die ihre Eltern und Grosseltern aufgebaut haben.
Was, wenn es auf lange Sicht gerade darum keine Kriege und Kriminalität mehr braucht, weil der Mensch seine Neigungen zur Gewalt virtuell in einem geschützten Raum ausleben kann? Was, wenn dank technischen Hilfsmitteln das Machtdenken einiger die Masse nicht mehr mitziehen kann, da die Leute, welche sich früher nicht trauten ihre Meinung zu sagen, sich nun im Internet vernetzen und an Informationen kommen, welche ihnen vorenthalten werden? Es wurde dem Internet eine grosse Rolle beim arabischen Frühling zugeschrieben. Die Möglichkeit sich zu vernetzen und der Welt virtuell Botschaften und Videos zu senden ist ein gutes Beispiel, wie technische Hilfsmittel helfen können Gewalt und Unterdrückung an die Öffentlichkeit zu bringen und im Endeffekt hoffentlich verringern. Was, wenn auf längere Sicht gesehen Technik wie Internet, Computer und Videospiele die Gesellschaft auf eine neue Stufe erheben kann, in der nicht mehr zählt, welche Rolle der Mensch nach aussen hin spielt und auf welcher Stufe einer sozialen Leiter er steht, sondern ihn dazu ermutigt, das zu verwirklichen, was ihn im innersten drängt und somit sein volles Potential zu entfalten? Vielleicht werden nun andere Fähigkeiten des Hirns wichtiger, ohne dass dies als gut oder schlecht gewertet werden muss.

Dass Kinder dumm, aggressiv und dick werden hat vorwiegend mit sozialen Systemen und nur zweitrangig mit direkten Objekten wie technischen Geräten oder dem Medium Videospiel zu tun. In diesen Systemen müssen wir ansetzen, es muss einem Kind in seiner Entwicklung die Begeisterung für die Natur und für die Umwelt mitgegeben werden, so dass es vorzieht, draussen mit Kameraden zu spielen, anstatt vor dem Fernseher zu sitzen. Wie gezeigt, können die Aussagen zur digitalen Demenz auf verschiedensten Ebenen untersucht werden. Dies ist ein interessantes Forschungsgebiet. Die Forschungen von Herr Spitzer sind sicherlich interessant, wie jedoch dargelegt findet sich in der Interpretation und der pauschalisierenden Haltung einige Schwachstellen, bei denen man für eine weitere Diskussion ansetzen muss.

 

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